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Die Opfer der Flüchtlingstragödie bei Parndorf im Jahr 2015

Vorgeschichte

2015 verließen mehr als eine Million Menschen ihre Heimat, weil sie dort von Krieg und Terror bedroht waren.  Betroffen waren vor allem Bewohner in Syrien, Afghanistan, Iran und dem Irak. Viele entschlossen sich, in der EU Schutz und Zuflucht zu suchen. Asyl konnten sie aber nur in den jeweiligen Zielländern stellen. Um dorthin zu kommen, hätten sie aber ein gültiges Visum benötigt. Da die meisten diese nicht bekamen, versuchten sie, auf den unterschiedlichsten Wegen ihr Ziel zu erreichen. Viele von ihnen wählten den Weg über das Mittelmeer. Dabei fanden ca. 4.000 Personen den Tod. Andere kamen über die sogenannte Balkan-Route. Egal welchen Weg sie einschlugen, auf der weiten Reise nahmen die meisten von ihnen die Hilfe von Schleppern in Anspruch. Ihnen zahlten sie Unsummen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in einem unbekannten Land. Die Schlepper organisierten sich in einem weitverzweigten Netzwerk und schlugen aus dem Leid und der Verzweiflung der betroffenen Menschen Kapital. Diesen Menschen vertrauten die Flüchtenden in letzter Konsequenz auch ihr Leben an. Die Mitglieder der Schlepperbanden waren äußerst risikofreudig. Vielfach verhielten sie sich allerdings auch gegenüber ihren Kunden skrupellos.   

 

 Das tragische Ende von 71 Flüchtlingen

In der Nacht vom 25. auf den 26. August saßen viele Flüchtlinge im Wald bei Domaszék und warteten auf ihren Weitertransport. Eine Woche zuvor hatte ein Mann bei einem Gebrauchtwagenhändler in Kecskemét einen Kühllaster gekauft. Der Käufer gehörte zu einer Schleppergruppe, die bereits unzählige Schleppungen organisiert und durchgeführt hatte. Mit diesem LKW wollten sie ihr Geschäft noch lukrativer gestalten. Es waren insgesamt elf Männer, die aus Afghanistan, Bulgarien und dem Libanon stammten. Vier von ihnen starteten am 26. August um ca. 4 Uhr morgens mit dem LKW in Kecskemét und fuhren nach Domaczék, um dort ihre kostbare Fracht zu verladen. Diese Fuhre würde ihnen viel Geld einbringen.

 

Kurz vor 5 Uhr früh bestiegen 71 Menschen auf Anweisung der Schlepper den Kühllaster. Eigentlich war ihnen versprochen worden, in einem PKW transportiert zu werden. Doch nun wurden sie gedrängt, in dieses Gefährt zu steigen, dessen Laderaum eine Länge von sechs Metern und eine Breite von 2,15 Metern hatte. Damit mussten auf einem m² ca. fünf Personen Platz finden. Sie mussten demnach dicht gedrängt stehen. Es gab keine Möglichkeit, sich hinzusetzen oder irgendwo anzuhalten. Möglicherweise halfen die Schlepper beim Einsteigen auch unsanft nach. Die meisten Flüchtlinge hatten sich vorher nicht gekannt. Es waren 59 Männer, 8 Frauen und 4 Kinder. Das jüngste Kind war erst 11 Monate alt. 21 kamen aus Afghanistan, 29 aus dem Irak, 15 aus Syrien und 5 aus dem Iran. Von einem Mann weiß man nicht, woher er stammte.  

 

Die Schlepper verriegelten den LKW von außen. Die Kühlung funktionierte in diesem Gefährt nicht mehr. Die Türen waren mit Gummidichtungen versehen und schlossen daher luftdicht ab. Es gab keine Fenster und das Fahrzeug ließ sich von innen nicht öffnen. Den Wagen steuerte der Bulgare Ivajlo S.. Die Schlepper eskortierten den LKW auf der Autobahn mit drei Autos. Sie hielten Ausschau nach Polizeikontrollen, um den  Lenker rechtzeitig zu warnen. Sollte es zu Problemen kommen, wäre durch sie auch die rasche Flucht des Fahrers gewährleistet gewesen. Sie passierten um ca. 6 Uhr Kecskemét und um 8 Uhr Budapest. Zu diesem Zeitpunkt waren die 71 Passagiere aller Wahrscheinlichkeit nach bereits tot. 

 

Die ungarischen Behörden hatten diese Schlepper schon längere Zeit im Visier und hörten auch ihre Telefonate ab. Sie werteten die Mitschnitte aber viel zu spät aus. Hätten sie die Gespräche sofort übersetzt, hätten sie vermutlich noch rechtzeitig einschreiten können. Aus den Aufzeichnungen ließ sich später nur mehr der Hergang des Unglücks rekonstruieren. Bereits 35 Minuten nach der Abfahrt unterhielten sich die Schlepper darüber, dass die Flüchtlinge im Laderaum laut klopfen würden. Zu diesem Zeitpunkt waren vermutlich viele schon in Todesangst. Die Männer dürften versucht haben, die Gummidichtungen zu zerstören, um eine Belüftung zu ermöglichen. Sie probierten vergeblich, aus ihrem metallenen Gefängnis auszubrechen und die Tür aufzutreten. Doch der Laster hatte eine dicke Aussenhaut. Gegen 6 Uhr konstatierte der Fahrer, dass das Klopfen immer panischer und lauter wurde. Um 6:10 Uhr meldete der Fahrer an seine Komplizen: "Sie schreien einfach die ganze Zeit, du kannst dir gar nicht vorstellen, was hier los ist, wie sie schreien." Zuerst überlegten die Männer noch, wie sie den Menschen Wasser geben könnten. Doch sie hatten Angst, den Laderaum zu öffnen, da ansonsten alle hinausstürmen würden. Also beschlossen sie, weiterzufahren. Als sie realisierten, dass die Menschen im Laderaum wahrscheinlich keine Luft bekamen, gab der Drahtzieher der Bande folgende Anweisung: "Das geht nicht, dass er die Tür aufmacht! Wenn er die Tür aufmacht, werden alle rauskommen! Sag ihm, er soll nur weiterfahren. Und falls sie sterben sollten, soll er sie dann in Deutschland im Wald abladen.“

 

Gerichtsmediziner gehen davon aus, dass die meisten Gefangenen im LKW zwischen 4:45 Uhr und 6:50 Uhr gestorben sind. Der Transporter überquerte um 9.16 Uhr die österreichische Grenze bei Nickelsdorf. Zu diesem Zeitpunkt war es im Laderaum bereits still, alle Passagiere längst tot. Um 9.40 Uhr stellte der Fahrer den LKW in einer Pannenbucht bei Parndorf ab und stieg in eines der Begleitfahrzeuge um. Vermutlich hatten die Männer realisiert, dass ihre Fracht verloren war. Den Laster mit den 71 toten Menschen ließen sie einfach zurück.  

 

Bergung der Toten und ihre Identifizierung

Der LKW war den Rest des Tages brütender Hitze ausgesetzt. Am folgenden Tag alarmierte ein Mitarbeiter der Autobahnmeisterei die Polizei. Er hatte in der Nähe den Rasen gemäht und fürchterlichen Gestank wahrgenommen. Ca. 25 Stunden nachdem der ehemalige Kühl-LKW abgestellt worden war, überprüften Polizisten das Fahrzeug. Als sie an die hintere Tür des Gefährts kamen, sahen sie dunkelrote Flüssigkeit aus dem Laderaum tropfen. Außerdem nahmen sie Verwesungsgeruch wahr. Da auf dem Laster ein Huhn abgebildet war, gingen die Polizisten von einer verdorbenen Lebensmittelfracht aus. Das Bild, das sich ihnen bot, als sie die Tür öffneten, werden sie wahrscheinlich ihr Leben lang nicht mehr los. Sie blickten auf zahlreiche leblose Körper, die am Boden lagen und ineinander verkeilt waren. Der Geruch des Todes ließ sie zurückschrecken. Bei der Meldung an ihre Dienststelle gingen sie von mindestens 20 Toten aus. Sie fotografierten auch den ersten Blick auf die Leichen. Dieses Foto erschien am nächsten Tag in einer österreichischen Tageszeitung und in der Bild-Zeitung. Das führte in der Folge zu einer intensiven Kritik an der Berichterstattung. Da das Foto mutmaßlich aus Polizeikreisen stammte, wurde gegen 17 Polizeibeamte ermittelt. Die Erhebungen wurden Ende 2016 allerdings ohne Ergebnis eingestellt. 

 

Der LKW wurde dann von Parndorf in eine Halle nach Nickelsdorf geschleppt, wo es eine Kühlmöglichkeit gab. Dort barg man die Leichen. Erst jetzt wurde das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Die Stellung der Toten zeigte, dass Kinder in die Höhe gehalten worden waren. Paare hielten sich fest umschlungen. Die Bergung der Toten dauerte mehrere Tage. Während die 71 Leichen entladen und erfasst wurden, lief die Fahndung nach den Tätern bereits auf Hochtouren. Rasch konnten die Hauptverdächtigen in Ungarn festgenommen werden. 

 

Für den 27. August war anlässlich der steigenden Flüchtlingszahlen an der Grenze von Nickelsdorf eigentlich eine Pressekonferenz geplant gewesen. Dafür hatten sich die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und der burgenländische Polizeidirektor Hans-Peter Doskozil eingefunden. Doch die beiden mussten statt ihrer geplanten Reden über den grausamen Fund der 71 Leichen berichten. 

 

Die Obduktion der Toten wurde durch die Gerichtsmedizin in Wien vorgenommen. Forensiker attestierten danach, dass die Toten vor ihrem Tod keine körperlichen Qualen gelitten hätten. Die meisten wären aufgrund des Sauerstoffmangels bewusstlos geworden. Allerdings dürften sie davor in Panik und Todesangst gewesen sein, denn sie merkten sehr wohl, dass der Sauerstoff knapp wurde. Die Identifizierung der Toten war äußerst schwierig. Es gab weder eine Namensliste der Passagiere noch sonst irgendwelche Anhaltspunkte. Bei dem Grad der Verwesung, in welchem sich die Körper befunden hatten, war eine Identifizierung über die Gesichtszüge nicht mehr möglich. Dies konnte nur mittels Zahnstatus, DNA und Fingerprints erfolgen. Der Zahnstatus gab Auskunft übe das Alter der Toten und die DNA half dabei, Familien zusammenzufinden. 

 

Für Menschen, die ihre Angehörigen unter den Toten vermuteten, wurde eine Hotline eingerichtet. Aus den vorhandenen Habseligkeiten versuchte man, Daten zu ermitteln. Schlussendlich konnten bis auf einen Toten alle identifiziert werden.  

 

Wer waren diese Toten?

Namensliste der 71 toten Flüchtlinge v. 27.8.2015

Über einige der Migranten konnte ich Einzelheiten in Erfahrung bringen. Ihre Geschichten sollen die Toten aus der Anonymität der Zahl 71 herausholen. Jeder einzelne Tote war ein Toter zuviel. 

 

Unter den Passagieren des LKW befand sich u.a. der 36-jährige Lehrer Hasan Al-Damen aus Deir ez-Zur in Syrien.  Als man ihn zum Militär einziehen wollte, entschloss er sich zu fliehen. Er wollte keinesfalls für Assad kämpfen, den er zutiefst verachtete. Hasan ließ seine Frau Nahed Asker und seine zwei kleinen Kinder zu Hause zurück. Er wollte sich erst Arbeit suchen und sie dann nachholen. Hasan war auf einem Großteil der zurückgelegten Strecke mit einer 12-köpfigen Gruppe unterwegs. Diese hatte sich bei Urfa in der Türkei formiert.

 

Dazu gehörte auch die Familie Alshaikh, die wie Hasan aus Deir es-Zur stammte. Eine Tochter der Familie, Farah Alshaikh, lebte bereits seit Jahren mit ihrem Mann in Deutschland. Sie sprach bereits perfekt Deutsch und praktizierte als Gynäkologin. Ihr Ehemann arbeitete als Internist in einem Krankenhaus. Farah war hochschwanger, als sie Ende 2014 bei der Ausländerbehörde in Deutschland einen Antrag auf Familiennachzug stellte. Sie wollte ihre Familie aus Syrien zu sich holen, weil die Situation für sie in der Heimat mittlerweile unerträglich wurde. Ihre Mutter Fadila Abdulrhman (53) lebte in ständiger Angst. Ihr Vater Abdel Alshaik (57) handelte mit Autoteilen. Sein Geschäft und die Häuser der Familie waren geplündert und zerstört worden. Ihr Bruder Almuthanna Alshaik (23) hatte Jus studiert und war vom IS verhaftet worden, weil er geraucht hatte. Ihre Schwester Hend Alshaik (16) durfte kurz vor der Matura die Schule plötzlich nicht mehr besuchen. Doch Farahs Antrag wurde mehrfach abgelehnt. Dabei wollte sie nicht einmal Geld vom Staat. Sie bat nur um die Erlaubnis, ihre Familie bei sich aufnehmen zu dürfen. Nicht einmal die Einreise ihrer Schwester, die an Asthma litt, wurde genehmigt. Abdel Alshaik hatte Syrien eigentlich nur auf einem legalen Weg verlassen wollen. Er fürchtete sich vor den Schleppern. Doch dann wurde die Sorge um die Familie zu groß und so entschloss er sich im Juli 2015 doch, mithilfe von Schleppern die Reise anzutreten. Ihnen schloss sich auch Abdels Bruder Youssef Alshaikh (39) an. Sie fuhren in ihrem Auto bis an die syrisch-türkische Grenze. Von dort brachte sie ein Schlepper nach Urfa in der Türkei. Dort verbrachten sie ein paar Tage bei einer Tochter Abdels. Dann ging es mit der kleinen Gruppe weiter nach Izmir. Mit einem Schlauchboot wollten sie auf Samos übersetzen. Ihre Helfer nahmen ihnen nicht nur 1.200 € pro Person für die Überfahrt ab, sondern auch ihr gesamtes Gepäck. Es würde nicht auf das Schlauchboot passen, sagte man ihnen. Ab jetzt besaßen sie nur noch das, was sie am Leib trugen, und ihr Handy. Mit dem konnten sie zumindest mit ihren Liebsten Kontakt halten. Doch die türkische Küstenpolizei machte ihnen zweimal einen Strich durch die Rechnung. Einmal brachte man sie zurück an den Strand und versenkte dann ihr Boot. Erst der 3. Versuch war erfolgreich. Gegen Mitternacht startete ihr Boot und am frühen Morgen des 19. August landeten sie auf Samos. Alle waren komplett erledigt. Mutter Fadila hatte sich zudem die ganze Nacht übergeben müssen. Im Hafen von Samos erhielten sie provisorische Reisedokumente. Sie kauften sich Tickets für die Fähre und erreichten so Athen. Dort konnten sie sich ein wenig von den Strapazen ausruhen und endlich auch wieder ausgiebig essen. Am nächsten Tag nahmen sie einen Bus bis an die mazedonische Grenze. Als sie versuchten, über den Grenzzaun zu klettern, wurden sie von Grenzbeamten erwischt. Diese verprügelten sie und sprühten ihnen Tränengas ins Gesicht. Die Gruppe wurde kurzzeitig getrennt, fand aber später wieder zusammen. Sie waren völlig durchnässt vom Regen und da es auch kalt war, froren sie. Sie fuhren dann mit einem Bus durch Mazedonien und Serbien. In Belgrad trafen sie den Schlepper Afghani. Er versprach ihnen, sie nach Deutschland zu bringen, ohne dass sie in den einzelnen Durchreiseländern registriert würden. Dafür sollten sie ihm € 1.200/Person zahlen. Die Reisenden hatten vorsichtshalber das Geld bereits in Urfa hinterlegt. Es sollte erst ausbezahlt werden, sobald sie sicher in Deutschland angekommen wären. Am 24. August befanden sich die Flüchtenden in einem Hotel in Belgrad. Von dort berichtete Almuthanna Alshaik (23) seiner Schwester in Deutschland, dass er soeben die Information erhalten habe, dass er seine Anwaltsprüfung bestanden hat. Die Familie war ausgeruht, hatte neue Kleider gekauft und freute sich auf ein Wiedersehen. Am Abend traf sich die 12-köpfige Gruppe in der Nähe des Busbahnhofes von Belgrad. Die Zeit bis zu ihrem Aufbruch um Mitternacht verbrachten sie in einem Park. Ihr Schlepper führte sie dann zu einem Parkplatz, wo drei Autos bereitstanden. Ins erste Auto stiegen neben dem Fahrer auch Hasan Al-Damen, Fadila Abdulrhman und ihr Sohn Almuthanna Alshaik ein. Almuthanna wollte eigentlich mit seinem Onkel Youssef Alshaikh fahren, der sich ins zweite Auto begab. Doch sein Vater wies ihn an, bei seiner Mutter zu bleiben. Diese Entscheidung sollte später noch weitreichende Konsequenzen haben. Mit dem letzten Auto machten sich Abdel Alshaik und seine Tochter Hend auf den Weg. So fuhren sie über die Autobahn E75 an die serbisch-ungarische Grenze. Dort stiegen sie in einem Wald bei Domaszék aus. Doch das zweite Auto kam nicht an. Die Schlepper hatten unterwegs eine Warnung erhalten und ihre vier Fahrgäste auf der Autobahn aus dem Wagen geworfen. Diese waren zu Fuß bis zum nächsten Dorf gegangen und dann mit einem Taxi nach Belgrad zurückgekehrt. Nachdem Youssef eine Sim-Karte für sein Mobiltelefon gekauft hatte, konnte er sich endlich bei seinem Bruder melden. Er hatte ein ungutes Gefühl und wollte seine Verwandten überreden, nicht weiterzufahren. Doch die Gruppe war nicht aufzuhalten. Youssef und die anderen 3 Flüchtlinge kamen nicht mehr nach. Dieser Umstand rettete ihnen schlussendlich das Leben.

 

Ebenfalls aus Syrien kam Massoud Youssef (34). Er war ein intelligenter junger Mann gewesen, der aus einer 14-köpfigen Familie in Qamishli stammte. Als Schüler hatte Massoud lange Haare getragen und sich nicht viel aus Religion gemacht. Viel lieber hatte er über seinen Büchern gebrütet. Sein Vater unterstützte ihn und finanzierte ihm ein Agrarwissenschafts-Studium in Damaskus. Den Master hatte Massoud bereits abgeschlossen, sein nächstes Ziel war der „Doktor“. Danach wollte er in seine Heimatstadt zurückkehren, denn sein Fachwissen war dort sehr gefragt. Doch dann brachen 2011 die Aufstände gegen Präsident Assad aus. Massoud floh vor dem Bürgerkrieg und fand in einer Provinzhauptstadt Arbeit in einer Baumwollfabrik. Doch die Terrormiliz drang immer weiter vor. Obwohl sich die Stadt Qamishli lange gegen die Angreifer verteidigen konnte, verbreiteten schließlich auch dort Selbstmordattentäter Angst und Schrecken mit Autobomben. Bald gab es keinen Strom mehr und das Wasser wurde knapp. 2013 zogen Massouds Eltern mit ihrem gesamten Hab und Gut in ein Flüchtlingslager im Irak. Das lag nahe der Grenze zu Syrien und ihre Heimatstadt war nicht weit entfernt. Sie hofften, bald wieder zurückkehren zu können. Doch die Zeit verging und Ende 2014 kam schließlich auch Massoud zu seinen Eltern in das irakische Camp. Der Vater wollte keinesfalls, dass Massoud in diesem sinnlosen Kampf sein Leben verliert. Er empfahl ihm, zum Studieren nach Europa zu gehen. Dafür verkaufte er die Hälfte seines Hauses an einen Kriegsgewinnler und schickte seinen Sohn mit 7.000 € auf die Reise. Mit diesem Betrag sollte er die Schlepper bis nach Wien bezahlen. Dort lebte bereits ein Onkel von Massoud. Massoud brach am 4. August zu seiner Reise in ein vermeintlich besseres Leben in Wien auf. Der erste Schlepper brachte ihn mit einem PKW in die Türkei. Von dort fuhr Massoud mit dem Bus nach Istanbul. Dort traf er Jihad Hasan, den Mann seiner Cousine. In ihrer Kindheit waren sie Nachbarn und eng befreundet gewesen. Jihad stammte wie Massoud aus einer kinderreichen Familie in Qamishli. Er hatte 7 Brüder und 2 Schwestern. Er arbeitete als Bauarbeiter und war mit Leila, einer Cousine Massouds, verheiratet. Die beiden hatten zwei kleine Kinder und wollten in Europa ein neues Leben anfangen. Jihad hatte dafür Geld gespart und sich auch etwas ausgeliehen, aber es reichte nur für seine Flucht. Er ließ daher seine Familie zurück,  wollte sie aber so schnell wie möglich nachholen. Auch Jihad hatte Wien als Ziel, wo ein Cousin auf ihn wartete. Einer seiner Brüder lebte in Schweden. In Istanbul schloss sich den beiden noch ein bekanntes Brüderpaar aus Qamishli an. Von der Türkei aus setzten sie am 14. August mit einem Schlauchboot nach Griechenland über. Der Schlepper kassierte dafür von jedem Einzelnen 1.800,- €. Nach 5 Tagen führte sie ihre Reise weiter durch Mazedonien und Serbien. Schließlich überquerten sie zu Fuß die Grenze nach Ungarn und warteten dort auf ihre nächsten Schlepper. Ihr Ziel war schon fast zum Greifen nahe.  

 

Unter den Toten war auch die 5-köpfige Familie Rahm aus Kunduz, die sich ebenfalls auf der Flucht befand. Der Vater Khuda Rahm war Polizist in Afghanistan gewesen und als solcher von den Taliban bedroht worden. Er reiste mit seiner Frau, seinen drei Kindern und einem Cousin. Seine kleine Tochter Lida war erst 11 Monate alt.  

  

Muhannet Ali Mudtafa und seine Frau Lefana Ahmad fanden ebenfalls den Tod in diesem LKW. Sie hatten drei  Monate zuvor in Syrien geheiratet und wollten in Deutschland eine Familie gründen. 

 

Mahmood Al Obaidi aus Bagdad war gemeinsam mit seiner Frau Zinah Gailani und deren Geschwistern unterwegs. Zinahs Bruder lebte bereits seit einiger Zeit in Deutschland und führte dort als Ingenieur ein gutes Leben. Zinah wollte es ihm gleichtun und hatte nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Geschwister Ali und Zainab Gailani zu diesem Abenteuer überredet. 

 

Der 35-jährige Iraker Saeed Othman Mohammed hatte sich ebenfalls auf den Weg nach Deutschland gemacht. Er stammte aus der Stadt Sulaimaniya im irakischen Kurdistan. Dort hatte er als  Mechaniker gearbeitet. Er hatte sich auch politisch engagiert und versucht, gegen die allgegenwärtige Korruption anzukämpfen. Doch letztlich hatte er sich eingestehen müssen, dass er nichts ausrichten konnte. Schließlich war für ihn klar, dass er in seiner Heimat keine Zukunft mehr hatte. Er träumte von Deutschland und dass er dort ev. eine Autowaschanlage oder einen Handyladen betreiben könnte. Bereits 2006 hatte Saeed einen Fluchtversuch unternommen. Damals war er in der Türkei verhaftet worden und zurück nach Hause geschickt worden. Es trieb ihn aber auch noch etwas anderes an. Er besaß nur mehr eine Niere und litt ständig unter Schmerzen. In Deutschland erhoffte er sich ärztliche Hilfe für sein Leiden. Am 22. Juli brach er schlussendlich mit einer 14-köpfigen Gruppe auf. Ein heimischer Schlepper hatte ihnen versprochen, sie für jeweils 9.500,- Dollar in 10 Tagen an ihr Ziel zu bringen. Dies sollte aufgrund seines großen Netzwerkes mit Schleppern in mehreren Ländern gelingen. Das Geld deponierte Saeed bei einem Händler. Erst sobald er sicher in Deutschland angekommen sein würde, wollte er ihn telefonisch instruieren, das Geld zu überweisen. Die Gruppe fuhr in zwei Fahrzeugen in die Türkei bis nach Diyarbakir. Von dort ging es via Flug nach Istanbul. Dort wurden sie von neuen Schmugglern übernommen, die sie an die bulgarische Grenze brachte. Nach einem vierstündigen Marsch wurden sie von Uniformierten angehalten. Die vermeintlichen Polizisten schlugen sie und nahmen ihnen ihre Handys und ihr Geld ab. Darauf kehrte die Gruppe wieder in die Türkei zurück. Als sie es einige Tage später wieder in Bulgarien versuchten, kamen die meisten der 14 Flüchtenden unentdeckt durch. Sie erreichten unbeschadet ihre Ziele. Saeed hatte weniger Glück. Er wurde gemeinsam mit 3 anderen Personen festgenommen und kam in Polizeigewahrsam. Man brachte sie dann später in ein Flüchtlingsinternierungslager, aus dem sie am 21. August wieder freigelassen wurden. Ihr Schlepper organisierte die weitere Flucht durch Serbien in einer anderen Gruppe. Von dort brachte sie der nächste Mittelsmann bis nach Ungarn. Ein Freund Saeeds, der ursprünglich mit der Gruppe unterwegs gewesen war und mittlerweile bereits in Österreich lebte, informierte Saeeds Bruder von seiner schrecklichen Fahrt in einem LKW. Er wäre fast erstickt und nur in letzter Minute hätten sich die Passagiere retten können. Er bat Saeeds Bruder, dem Schlepper weitere 600 € zu überweisen. Dafür sollte dieser garantieren, dass Saeed in einem PKW und keinesfalls in einem LKW transportiert würde. Saeeds Bruder veranlasste dies auch und warnte auch seinen Bruder am Telefon. Er solle keinesfalls einen LKW besteigen. Warum er dies dann doch tat, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben.  

 

An Bord des Unglücks-LKWs befanden sich auch die Geschwister Elin Hazim Kali (14) und Ali Alend Kali (16) sowie deren Onkel Herish Guli Ali (22). Sie stammten aus einer jesidischen Familie im Irak und waren von IS-Kämpfern bedroht worden. Einer ihrer Verwandten war im damals hart umkämpften Sindschar-Gebirge getötet worden. Ihre Mutter hatte man entführt und erst gegen Bezahlung von Lösegeld war sie wieder freigekommen. Damals beschloss die Familie, zumindest die Kinder so rasch wie möglich nach Europa in Sicherheit zu bringen. Sie hatten ihre Ersparnisse zusammengekratzt und damit Schlepper engagiert. Sie wollten zu ihrer Tante in Deutschland. Besonders tragisch: Elin hatte Angst im Dunkeln und begab in solchen Situationen Panikattacken. Wie muss sie im finsteren LKW gelitten haben?

 

Einen interessanten Beitrag gibt es auch in der ARD Mediathek: Dokumentation & Reportage: Erstickt im Lkw - Das Ende einer Flucht - hier anschauen

 

letzte Ruhestätten

Die meisten Leichen wurden zur Beisetzung in ihre Heimatländer gebracht. So wurde Massoud Youssef  nach  Qamishli überführt und dort begraben. Die sterblichen Überreste von Saeed Othman Mohammed wurden in Sulaimaniya beerdigt. Es hatte lange gedauert, bis die Familie von seinem Tod erfuhr. Der kontaktierte Schlepper, der eigentlich einen Transport in einem PKW zugesagt hatte, behauptete lange, dass sich Saeed in Haft befinden würde. Erst offizielle Informationen aus Österreich machten die Befürchtung seines Bruders zur schrecklichen Gewissheit. Die männlichen Mitglieder der Familie versuchten, seinen Tod so lange wie möglich vor seiner Mutter und seiner Schwester geheim zu halten. Erst als sein Sarg am Flughafen ankam, konfrontierten sie sie mit der schrecklichen Nachricht .  

 

13 Tote, wie z.B. Jihad Hasan, Hasan Al-Damen und die Familie Alshaikh, fanden am islamischen Friedhof Wien-Liesing ihre letzte Ruhestätte. Leider habe ich nur das Grab der Familie Ashaikh gefunden. 

Am Wiener Zentralfriedhof wurden zwei der Verstorbenen beigesetzt. Das Grab befindet sich in der Gruppe 38 direkt hinter den letzten Pestopfern Wiens (Reihe 4, Nr. 121 und 122). Laut Friedhofsverwaltung scheint das Grab in der Verstorbenensuche nicht auf, weil die Namen dieser Verstorbenen nicht bekannt gemacht werden sollen. Aufgrund der Lage des Grabes drängt sich allerdings der Eindruck auf, als wolle man es verstecken. Auch am Gedenkstein steht nur: „Zum Gedenken an die 71 Opfer der Flüchtlingskatastrophe am 27. August in Parndorf“. Die Jahreszahl fehlt. Anfangs sah diese Gedenkstätte auch äußerst lieblos aus. Jetzt ist sie zumindest mit Gras bepflanzt und wird auch regelmäßig gepflegt. Wir als Gesellschaft sollten aber nicht einfach Gras über die Sache wachsen lassen, sondern uns dafür einsetzen, dass Menschen in ihren Heimatländern frei und ohne Angst vor Verfolgung leben können. Niemand sollte einen Grund haben, flüchten zu müssen. Und wenn doch, dann sollten sie dabei nicht auf Schlepper angewiesen sein, denen das Leben verzweifelter Menschen nichts wert ist.  

 

Was weiter geschah

Da der Tod der Flüchtlinge noch in Ungarn eingetreten war, war auch die ungarische Justiz für diesen Fall zuständig. 

 

Am 4. September berichtete die burgenländische Polizei von einem zweiten Lkw, der auf derselben Route mit 81 Personen unterwegs gewesen sein soll, vermutlich mit derselben Abfahrtszeit. Diese 81 Flüchtlinge wären ebenfalls erstickt, hätten sie nicht eine Öffnung in der Seitentür entdeckt. Fünf Schlepper wurden in Ungarn verhaftet. 

 

Zwei Jahre nach der Katastrophe wurde den Schleppern in Budapest der Prozess gemacht. Die Ermittlungen ergaben, dass die Bande ca. 1.000 geschmuggelten Menschen ungefähr 15,5 Mio. Euro abgenommen hatte. Dieses Geld floss laut Europol größtenteils nach Afghanistan. Die vier Haupttäter wurden wegen Mordes angeklagt und zu 25 Jahren verurteilt. Die zweite Instanz erhöhte das Urteil dann auf lebenslang.  Zehn weitere Angeklagte fassten Freiheitsstrafen in der Höhe von vier und acht Jahren aus. Das Gericht betonte in der  Urteilsverkündung, dass sich die Angeklagten im Klaren darüber gewesen seien, dass die Menschen im hermetisch abgeschlossenen LKW ersticken könnten.  Sie wussten auch, dass der Laderaum von innen nicht zu öffnen war. Der Tod der Flüchtlinge habe sich ereignet, da den Schleppern ihr eigenes Untertauchen wichtiger gewesen sei, als das Leben der 71 Menschen. 

Angela Merkel: "Wir schaffen das": Wikimedia  v. AlanCristKunst  CC BY-SA 4.0

Nur eine Woche nach dem Fund der 71 toten Migranten wurden die Grenzen geöffnet und Flüchtlinge konnten ungehindert nach Österreich und Deutschland einreisen. Damals glaubten noch alle an das Versprechen Angela Merkels "Wir schaffen das".

 

Ich habe damals auch in der Flüchtlingsbetreuung geholfen und werde die Eindrücke nicht vergessen. Ich vertrete auch heute noch die Meinung, dass wir hilfesuchenden, verzweifelten und verfolgten Menschen helfen müssen. Aber es bedarf eines genauen Hinschauens, denn unter die Menge der Flüchtlinge mischen sich leider auch schwarze Schafe. Es muss die Spreu vom Weizen getrennt werden. Das ist schwierig, keine Frage. Aber nur, weil es viele schwarze Schafe unter den Asylsuchenden gibt, dürfen wir nicht den Fehler machen und alle  verurteilen. 

 

Gedenken

Memory Box 71

Michael Kos fertigte eine Kunstinstallation an. Sie erinnert an die Opfer und trägt den Namen "Memory Box 71".  2020/21 wurde das Werk im Museum Moderner Kunst präsentiert. Danach tourte es durch Österreich, wo es an unterschiedlichen Standorten zu sehen war. Schließlich wurde es an das Land Burgenland übergeben und vorerst im Kulturzentrum in Eisenstadt ausgestellt. Zum 10. Jahrestag der Katastrophe fand es nun einen dauerhaften Platz auf der Burg Schlaining

 

Am 4. Jänner 2017 fand in Parndorf die Uraufführung des Theaterstücks "71 oder der Fluch der Primzahl" statt. Danach wurde die Produktion an mehreren Orten im Burgenland und im übrigen Österreich gezeigt. Inszeniert wurde es vom Autor und Regisseur Peter Wagner. Er verarbeitete im Stück Texte von 21 burgenländischen Autorinnen und Autoren sowie Interviews Beteiligter.  Das Stück wurde auch aufgezeichnet und kann hier angesehen werden: "71 oder der Fluch der Primzahl"

Möge Frieden auf Erden werden und jeder in seinem Heimatland Glück und Erfüllung finden!


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